«Einsamkeit schadet so sehr wie Alkohol»

    Der Verein «Mein Ohr für Dich – einfach mal reden!» hat sich zum Ziel gesetzt, eine kostenlose, anonyme, niederschwellige Telefonlinie schweizweit anzubieten, um einsamen Menschen, Jung & Alt, eine soziale Teilhabe zu ermöglichen. Der Startschuss zu dieser Initiative erfolgte im Frühjahr 2021. Philippe Goetschel, Co-Projektleiter des Vereins «Mein Ohr für Dich – einfach mal reden!» stellt das Projekt hier vor.

    (Bild: pixabay) Telefonieren gegen die Einsamkeit: Das Gefühl der Einsamkeit ist keine private Befindlichkeit mehr, es ist ein Schlagwort für einen gesellschaftlichen Notstand geworden.

    Wie einsam sind Frau und Herr Schweizer?
    Philippe Goetschel: Die letzten Zahlen des Bundes zum Thema «Einsamkeit»: Wie Sie daraus entnehmen können fühlen sich 38% der Schweizer Bevölkerung einsam. Aufgrund dieser hohen Prozentzahl wäre die Politik dringend aufgefordert, etwas dagegen zu unternehmen, zumal die Tendenz vermutlich eher nach oben zeigt. Zumal diese Zahlen vor der Pandemie erhoben wurden, wir wissen, die Covid-Pandemie hat viele Menschen zusätzlich einsam gemacht

    Das Thema «Einsamkeit» hat nach wie vor grosse gesellschaftliche und politische Relevanz. Welche gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen kann Einsamkeit haben?
    Einsamkeit entsteht, wenn die eigenen sozialen Beziehungen nicht den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Der empfundene Mangel kann sich sowohl auf die Zahl der Kontakte als auch auf die Tiefe und Enge der Bindungen beziehen. Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, daher sind die Ursachen für Einsamkeit individuell und lassen sich nur schwer verallgemeinern. Verschiedene Studien haben mittlerweile deutlich aufgezeigt, dass Einsamkeit krank macht. Einsamkeit ist demnach so schädlich wie 15 Zigaretten am Tag. Einsamkeit schadet so sehr wie Alkohol. Einsamkeit ist laut den Forschern schädlicher als kein Sport zu treiben. Einsamkeit ist doppelt so schädlich wie Fettsucht. Die Überlebenswahrscheinlichkeit kann laut jüngsten Studien gegenüber sozial weniger aktiven Menschen um 50 Prozent höher liegen, wenn man einen guten Freundes- und Bekanntenkreis hat.

    Wieso ist Einsamkeit ein Tabuthema?
    Einsamkeit ist in unserer Gesellschaft nach wie vor negativ konnotiert, obwohl vermutlich jeder Mensch im Laufe des Lebens das Gefühl der Einsamkeit einmal kennengelernt hat. Einsamkeit ist keine psychische Krankheit, wird aber ähnlich tabuisiert. Manchmal spielt auch die Angst vor Einsamkeit oder sozialer Isolation eine Rolle. Auf jeden Fall scheint unsere Gesellschaft davon auszugehen, dass Menschen, die sich einsam fühlen oder alleine sind, selber schuld sind. Diese gesellschaftliche Attribution wird von vielen Menschen einfach übernommen, sie fühlen sich dann selber schuldig und reden nicht darüber (Selbstattributionstheorie). In der Folge bleibt das Thema «Einsamkeit» ein Tabuthema.

    Sie haben den Verein «Mein Ohr für Dich-einfach mal reden!» im Frühling 2021 gestartet. Wie ist es zu dieser Initiative gekommen und was ist die Idee dahinter?
    Die Idee des ersten Alltagstelefons in der Schweiz entstand aus einer Bewegung in Basel, welche in der ersten Welle der Pandemie Nahrungsmittel für Seniorinnen und Senioren nach Hause brachte. Sehr bald wurde deutlich, dass das Grundbedürfnis nach Nahrung wichtig ist, das Grundbedürfnis nach sozialem Austausch und Kontakt aber nicht berücksichtigt wurde. Aufgrund dieser wichtigen Erkenntnis haben wir – Daniela & Philippe Goetschel Schnizer – ein neues Angebot geschaffen, welches genau in diese Lücke tritt – Mangel an Sozialkontakten, für alle Menschen, für Jung & Alt. Mittlerweile sind genug Forschungsdaten vorhanden, die aufzeigen, dass auch jüngere Generationen zunehmend unter Mangel an Echtzeit-Sozialkontakten leiden. Wir alle wissen, das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen ist universell, altersunabhängig und gesundheitsfördernd. Ein Mangel an Sozialkontakten kann schwerwiegende gesundheitliche Probleme mit sich bringen. Dazu möchte das Alltagstelefon im Rahmen der Gesundheitsprävention einen relevanten gesellschaftlichen Beitrag leisten. Das Projekt möchte die Gesellschaft betreffend Thema «Einsamkeit» sensibilisieren, das Thema entstigmatisieren und den sozialen Zusammenhalt damit stärken. Aktuell arbeiten alle (Projektleitung sowie die freiwillig Mitarbeitenden) professionell im Rahmen der Freiwilligenarbeit.

    Braucht es nicht etwas Mut, um zum Telefonhörer zu greifen?
    Der Weg aus der Einsamkeit geht nicht ohne einen ersten aktiven Schritt. Den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und die Nummer 0800 500 400 zu wählen, kann ein erster solcher Schritt sein. Möglicherweise kann aber auch der Besuch in einem Quartiertreffpunkt ein erster Schritt bedeuten. Wichtig ist zu wissen, dass der erste Schritt aus der Einsamkeit selber aktiv bewältigt werden muss, allenfalls mit Unterstützung. Den ersten Schritt kann aber von niemand anderem gemacht werden.

    (Bild: pixabay) Selbstgewählte Einsamkeit und Alleinsein sollen als gesellschaftlich akzeptierte Bedürfnisse gelten dürfen.

    Der Verein ist nun bereits im 3. Betriebsjahr und auf Erfolgskurs. Wie sehen die Anzahl Anrufe aus und auf was führen Sie dies zurück?
    Der Startschuss zu dieser Initiative erfolgte im Frühjahr 2021 und ist nun bereits im 3. Betriebsjahr auf Erfolgskurs – die Zahlen belegen klar: Ein Bedarf an einer kostenlosen Hotline für einsame Menschen allen Alters, Jung & Alt, ist gegeben. In den ersten Jahren waren es 1’734 Anrufe, vom Januar 2022 bis Dezember 2022 2’563 Anrufe.

    Was erwartet den Anrufer?
    Ganz wichtig: Unsere freiwilligen Mitarbeitenden führen ein Gespräch mit den Anrufenden auf Augenhöhe. Die Freiwilligen sind nicht die Experten und die Anruferin oder der Anrufer ist nicht die oder der Bittsteller/in. Es entwickelt sich ein alltägliches Gespräch am Telefon, ähnlich wie ein Telefongespräch mit einem Freund, einer Bekannten, einem Nachbarn. Dabei können sehr unterschiedliche Themen zum Tragen kommen, grundsätzlich kann «über Gott und die Welt» miteinander gesprochen werden. Darum heisst es so schön auf unserer Webseite: Du möchtest plaudern, reden, erzählen, diskutieren, zuhören & teilen, aber niemand ist gerade da! Ruf uns an 0800 500 400, kostenlos, anonym & vertraulich, Redezeit für Dich. Telefongespräche über Alltägliches und Nichtalltägliches, wir brauchen alle mal ein offenes Ohr!

    Und wer ist am anderen Ende des Hörers?
    Die freiwilligen Mitarbeitenden werden nach den Standards von Benevol Schweiz geführt und begleitet. Die freiwilligen Mitarbeitenden werden von der Projektleitung rekrutiert, ausgebildet und auf ihre Aufgabe innerhalb des Projektes umfassend eingeführt. Die rekrutierten Freiwilligen verfügen über einen «gut gefüllten Rucksack», haben grundsätzlich ein grosses Interesse mit Menschen in Kontakt zu sein, haben Freude am Telefonieren und sich mit Alltagsthemen der Anrufenden auseinanderzusetzen. Der Prozess der Rekrutierung der freiwilligen Mitarbeitenden wird von der Projektleitung verantwortungsvoll und professionell durchgeführt. Der Prozess ist klar vorgegeben und erfolgt im Sinne der Qualitätskontrolle einem standardisierten Ablauf. Der Rekrutierungsprozess schliesst mit einer internen Schulung ab, danach wird bei gegenseitigem Einverständnis eine schriftliche Arbeitsvereinbarung aufgesetzt. Die freiwilligen Mitarbeitenden werden während ihres Telefondienstes jeweils im Hintergrund telefonisch begleitet, die Projektleitung steht während den Telefondiensten im Pikettmodus zur Verfügung. Die freiwilligen Mitarbeitenden werden, ebenfalls zur Qualitätssicherung, regelmässig supervisorisch begleitet und beraten.

    Was sind «erste Telefonfreundschaften» und «Tandem-Angebote»?
    Telefonfreundschaften und Tandem sind synonym zu verstehen. Telefonfreundschaften werden meist von älteren Menschen gewünscht, die es bevorzugen, einmal in der Woche während einer Stunde immer mit der gleichen freiwilligen Person zu plaudern.

    Wie wird das Freiwilligenprojekt finanziert?
    Das ganze Projekt ist ausschliesslich spendenfinanziert. Alle am Projekt Beteiligten, die Projektleitung und alle freiwilligen Mitarbeitenden, arbeiten ehrenamtlich und professionell, es werden keine Löhne ausbezahlt.

    Haben Sie weitere Pläne mit diesem Projekt?
    Wir haben grundsätzlich noch viele Ideen und Pläne, daran mangelt es nicht. Wir müssen allerdings behutsam mit dem Projektaufbau umgehen, damit die finanziellen und personellen Ressourcen nicht überstrapaziert werden.

    Was wünschen Sie sich bezüglich der Einsamkeit in der Schweiz?
    Das erste Alltagstelefon in der Schweiz soll ein etabliertes, finanziell gesichertes und bekanntes Telefonangebot sein. Einsame Menschen, Jung & Alt, haben die Möglichkeit jederzeit anzurufen, um mittels Gesprächs mit den Freiwilligen, für einen Moment soziale Teilhabe an der Gesellschaft zu erfahren. Das Thema Einsamkeit soll enttabuisiert werden. Selbstgewählte Einsamkeit und Alleinsein sollen als gesellschaftlich akzeptierte Bedürfnisse gelten dürfen. Hingegen soll es allgemein anerkannt sein, dass chronische Einsamkeit ein gesellschaftlich relevanter Faktor ist. Dies soll auf politisch auf kommunaler, Kantons- und Bundesebene zu entsprechenden Strategien führen.

    Interview: Corinne Remund


    Philippe Goetschel, Co-Projektleiter ist Lic.phil. Psychologe FSP, Psychotherapeut FSP, Kinder- und Jugendpsychologe FSP, Notfallpsychologe SBAP, dipl. Pädagoge sowie Fachbuchautor.

    www.meinohrfuerdich.ch

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